Tee mit der Königin

Tee mit der Königin

Kurzgeschichten aus Wales herausgegeben und übersetzt von Frank Meyer und Angharad Price. 1996 erschienen im Cambria Verlag, Hildesheim seit 2005 im Sortiment des Bertuch-Verlags 118 Seiten

ISBN: 978-3-937601-17-5
Preis: 9,80 €

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Die keltische Freude am Geschichtenerzählen macht den Zauber der walisischen Literatur aus.

Die Erzählungen dieser Sammlung handeln von Menschen, die in Wales leben und Teil seiner Landschaft und Kultur sind. Das sie prägende Gefühl der Abgrenzung gegenüber England wird ohne Kampfparolen oder Lamentieren vermittelt. Es geht nicht um große, sensationelle Ereignisse, sondern um Alltägliches und Unspektakuläres. So entsteht eine unaufdringliche, bisweilen fast schüchterne Erzählatmosphäre.

weitere Erzählbände von Frank P. Meyer:

Raum 101

es war mir ehrlich gesagt völlig egal

Leseprobe

Der Brief

Gerallt Jones (1966)

„Vergiss nicht zu schreiben.“ Klick-di-klack, klick-di-klack, klick-di-klack: Das Geräusch der Zugräder verschmilzt in meinem Kopf mit den Worten meiner Mutter. Ich sitze in der Ecke und sehe nichts von der vorbeirasenden grauen Welt. „Vergiss nicht zu schreiben.“
Ich schaue durch das Fenster hinaus. Das Meer eilt vorbei, zurück nach Pwllheli, zur Halbinsel Llyn, zu Omas Haus in Nefyn. Ach, tausend Pfund würde ich dafür geben, oder zweitausend, zweitausend und dazu noch den Morris von meinem Vater und das Cricket-Buch mit dem Bild von Don Bradman drin, nur um jetzt zu Hause Fußball spielen zu können, anstatt weg zur Schule zu müssen; um mich langsam auf dem Bahnsteig von Pwllheli umdrehen zu können, nachdem ich mich von einem anderen Jungen verabschiedet habe, der weg zur Schule muss, durch das hölzerne Tor gehen, einen Augenblick vor Wymans Kiosk stehen zu bleiben, die bunten Süßigkeiten anzuschauen und den Hotspur und die Fußballzeitung zu kaufen, und dann hinaus in den Regen zu gehen. Dann würde ich einen Augenblick mitten auf dem Bahnhofsplatz stehen bleiben, um schön nass zu werden und um die Straße von Pen Cob auf und ab zu schauen, wie ein alter Bauer, bevor ich mich entscheide, in welche Richtung ich gehen will. Dann würde ich ganz großspurig nach links gehen, ohne Hast – wozu auch – und ich würde ganz gemächlich zur Brücke schlendern und stundenlang dort bleiben und den Schwänen zusehen. Schwäne sind ja richtige Snobs; tun so, als ob sie nicht merken, dass man sie anstarrt. Unaufhörlich schwimmen sie im Kreis herum, wie verrückt, die schwarzen Füßchen unter sich bewegend, immer rundherum wie eine Dampflok. Wie eine Dampflok. Klick-di-klack, klick-di-klack. Vergiss nicht zu schreiben. „Liebe Mutti, Die Schule gefällt mir gar nicht. Bitte, darf ich wieder nach Hause. Jetzt gleich. Mit lieben Grüßen, Ihr...“
Aber es dauert noch zehn Wochen, bis ich wieder bei Pen Cob spazieren gehen darf. Zehn Wochen. Wie lange sind eigentlich zehn Wochen? Bestimmt fast so viel wie von dieser Sekunde bis zum Ende der Welt, von heute bis zu der Zeit, von der Oma erzählt hat – als der betrunkene Mann auf der Kirmes in Llanllyfni mit dem Polizeihut Fußball gespielt hat, oder so lang wie Wie-im-Anfang-so-auch-jetzt-und-in-Ewigkeit-Amen. Niemand kann das Ende von 10 Wochen sehen. Es ist einfach zu lange, um daran zu denken. Ich nehme den Hotspur, versuche etwas über Cannonball Kidd zu lesen, der aus dem Mittelfeld ein Tor schießen kann, am besten Tormann der Welt vorbei. Ich schaffe es nicht einmal, mich mit Cannonball Kidd auf andere Gedanken zu bringen. Ich spüre ein riesiges Loch in meinem Magen und schaue durchs Fenster, ohne was zu sehen, außer Nieselregen in Pwllheli. „Liebe Mutti, Hier ist der Brief. Ich habe Bauchweh. Bitte, bitte, darf ich nach Hause...“
Ich saß an der Brückenmauer, als Math zu mir kam und sagte, dass ich auch weg zur Schule müsse. Zuerst verstand ich nicht, was das heißen soll. Die Brücke war damals natürlich keine Brücke, sondern ein Schiffsdeck. Ich war der Kapitän und das Schiff war auf dem Weg nach Indien und China, um die ganzen Reichtümer zu sehen und die kleinen gelben Kinder. Als Math, so schnell er konnte die Felin-Straße heruntergelaufen kam und schrie, dass er eine wichtige Nachricht für mich hätte, sprang ich auf den Steinblock unter der Brücke, um mich dort zu verstecken; ich blieb ganz still und wagte nicht einmal zu schlucken oder das kleinste bisschen zu atmen, bis ich fast platzte.
„Hey, Joni, ich hab’ne wichtige Nachricht für dich!“ Ich gab keine Antwort. Ich schlich auf dem Stein ein Stück weiter, um einen besseren Platz zum Sitzen zu finden; dann setzte ich mich ruhig hin und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Ich konnte die Schuhsohlen schön ins Wasser hängen lassen, ohne dass meine Füße nass wurden; nur manchmal ein bisschen.
Maths Stimme änderte sich.
„Captain, Sir! Ich habe eine wichtige Nachricht für das Geschwader, Sir!“
Pah, sagte ich mir, nicht mir mir, mein Junge; so blöd bin ich nun auch wieder nicht. Ich verbarg mich weiter im Schatten der Brücke und träumte, dass ich in einer Höhle lebte, ohne dass jemand davon wüsste, und dass die Welt weit weg wäre.
„Mensch, Joni, komm doch endlich, ich hab’ dir wirklich was ganz Wichtiges zu sagen.“
Was er wohl hatte? Vielleicht war es doch keine schlechte Nachricht. Vielleicht war für den Nachmittag ein Ausflug nach Psllheli geplant. Oder sogar weiter. Nach Bangor vielleicht, zu einem Fußballspiel? Wenn ich nun einen Ausflug zum Fußballspiel nach Bangor verpassen würde!
„Wart du nur; wenn du Spielchen mit mir spielen willst, dann wirst du’s jetzt eben nicht erfahren.“
Ich hörte, wie Maths Füße eine Entscheidung trafen, wie sie wieder die Straße hinaufgingen. Rasch sprang ich auf und lief über den Steinblock; ich wollte nicht alleingelassen werden unter der Brücke; es war kalt und ungemütlich, und die großen Steine tropften nass und grün.
„Hallo! Math, Hallo? Math?”
“Komm ‘mal her, du kleiner Bengel, ich hab’ dir was zu sagen.”
Ich kletterte dreckig und zersaust die Mauer hinauf, setzte mich drauf und bekam die Nachricht zu hören. Sie wollten, dass ich weg zur Schule gehe. Ich konnte es überhaupt nicht begreifen. Math war schon längst weg zur Schule gegangen, aber das war ’was anderes. Er war schon fünfzehn und ein Fremder. Eigentlich war er gar keiner von uns. Und jetzt musste ich auch weg zur Schule. Keine Spaziergänge mehr. Was hieß denn eigentlich „weg“? War das weiter als Pwllheli? So weit wie Bangor vielleicht? Der Ort hieß Shwsbri (Shrewsbury), sagte Math, aber was bedeutete das nun wieder? Shwsbri hörte sich an wie strawberries, und strawberries gab es ja auch in Llaniestyn. Ob ich noch zum See angeln gehen kann, wenn ich weg bin? Oder mich auf die Brücke setzen, oder zum Laden in Felin Eithin gehen, um frisches Brot zu kaufen und dann die Hälfte davon auf dem Nachhauseweg aufzuessen? Ob ich im Salon mit dem Zug spielen könnte? Mit dem Zug spielen. Klick-di-klack, klick-di-klack... Ach Mutti, ich will nicht nach Shwsbri. „Liebe Mutti! Ich weiß nicht, wo ich sein werde, wenn Sie diesen Brief bekommen. Ich bin nämlich aus dem Zug gesprungen. Ich fahre nach Indien, weil ich nicht nach Shwsbri will, weg zur Schule. Mit freundlichen Grüßen, Ihr ...“
Ich werfe den Hotspur auf den Boden, schaue zornig hinaus auf den Bahnhof von Criccieth und mache mich über mein Schinkenbrot her. Es muss schon Stunden her sein, seitdem ich gefrühstückt habe.
In Dyfi Junction vergesse ich für einen Augenblick den Zweck meiner Reise und schaue mich recht zufrieden auf dem Bahnsteig um, als ich plötzlich in einer Menschenschar am anderen Ende des Bahnhofs eine Schulmütze sehe. Genau dieselbe Farbe wie die nagelneue Mütze, die ich inzwischen sicher in meiner Jackentasche versteckt hatte. Augenblicklich bleibe ich stehen. Dann schleiche ich mich Schritt für Schritt um die Ecke zum Männerklo. Dort bleibe ich kurz, ganz außer Atem und mit hämmerndem Herzen. Noch ein Junge, der dorthin muß! Wie er wohl ist? Er sieht ungeheuer herausgeputzt aus, richtig piekfein. Ich strecke den Kopf um die Ecke der Toilette, um ihn zu beobachten. Er bleibt auf dem Bahnhof stehen, eine neue Tasche vor sich auf dem Boden. Und was tut er? Er liest Zeitung! Der einzige, den ich bisher Zeitung lesen gesehen hatte, war mein Vater. Und mein Vater ist schon älter. Ob in Shwsbri Jungs auch schon Zeitung lesen? Ach du lieber Gott, was für ein Ort ist das überhaupt?
Als der Shwsbri-Zug einfährt, springe ich geschickt in einen leeren Waggon ganz hinten. Bitte, lieber Gott, sagte ich, schicken Sie nicht den feinen Jungen in diesen Waggon. Aber ich weiß, dass es vergeblich ist. Und tatsächlich nähert er sich schon, stolziert durch den Korridor, die Mütze über ein Ohr gezogen, und kommt herein. Nachdem er die Tasche auf die Ablage geworfen und sich plump in den Ecksitz hat fallen lassen, mustert er mich von oben bis unten, wie ein Bauer, der eine Kuh kauft.
„Ich sehe, wir fahren zum gleichen Ort“, sagt er abrupt – er spricht Englisch – und deutet auf ein Stück meiner neuen Mütze, die aus meiner Manteltasche herausschaut.
„Ich zu Shwsbri gehen“, sage ich.
„Ja, mein lieber Junge, alle in diesem Zug fahren nach Shrewsbury“, sagt er, „aber wir beide fahren zur gleichen Schule.“
„Ach, ja.“ Es sind viel zu viele englische Wörter durcheinander, als dass ich sie richtig verstehen kann, und ich kann nichts tun, außer ihn anzusehen und dämlich dreinzuschauen. Ach Mutti, ich will nicht weg zur Schule, wo sie komisch reden, und wo die Jungs Zeitung lesen und kein verdammtes Schwein Walisisch kann. Verdammt, verdammt, verdammt, sage ich mir – das Wort fällt mir gerade ein – ich will nicht zu dieser Mistschule.
„Ich nehme also an, du bist ein Neuer“, sagt er großspurig weiter.
„Ja.“
„Hm. Gut. Du solltest aber die Mütze aufhaben, weißt du. Es ist nämlich ein Vergehen, ohne Mütze herumzulaufen.“
„Ach.“ Ich greife nach der schwarz-gelben Mütze und klatsche sie mir auf den Kopf. „Vergehen?“
„Vergehen. Verbrechen. Die Regeln verletzen. Was ist los mit dir, verstehst du kein Englisch?“
Aber die Frage verlangt keine Antwort, und er verbirgt sich hinter der Zeitung und kaut Süßigkeiten und pfeift auch von Zeit zu Zeit, um zu zeigen, dass er weiß, dass ich noch da bin. In Welshpool kommen noch drei dazu, alle lachen laut, klopfen sich gegenseitig auf die Schulter und schütteln einander die Hände, und sprechen eine fremde Sprache mit Worten wie „swishing“ und „brekker“ und „footer“ und „prep“(1). Nachdem sie genug davon haben, sich gegenseitig die Mützen wegzunehmen und sich zu treten und die Taschen hin und her zu werfen, merkt jemand, dass ich da bin.
„Was ist das denn, Podge, ein Frischling?“
„Ja“, sagt der alte. „Und obendrein so’n Waliser. Versteht kein Wort Englisch.“
„Du lieber Himmel.“ Er kommt zu mir und starrt mir direkt ins Gesicht, und ich sehe die schwarzen Mitesser auf seiner Nasenspitze. Inzwischen hören auch die anderen aufmerksam zu. Er hält sein Gesicht ein paar Zentimeter von meinem entfernt. Wenn ich mutig wäre, würde ich ihm die Zähne einschlagen. Wenn ich wie Math oder Sexton Blake wäre. Bin aber nicht so.
„Waliser bist du? Waliser? Waliser?“
„Ja“, sage ich elend. „Ich bin von Pen Llyn.“
Sie lachen sich fast tot, und der Fragesteller versucht es noch mal.
„Willst zur Prestfelde Schule, oder? Schule? Schule?“
Er wendet sich zu den anderen.
„Oh, verdammt! Jungs, das wird uns noch viel Spaß bringen – das da – wenn wir da sind. Alles, was ‚es’ sagen kann, ist ‚ja’.“
Sie kringeln sich alle wieder vor Lachen. Ich verkrieche mich für den Rest der Fahrt in der Ecke, spüre, wie mir die blöden Tränen in die Augen steigen und versuche, an Cannonball Kidd zu denken, an Wohnwagen, an Ferien in Bermo, an alles außer Mutti und Pen Llyn frühmorgens. Klick-di-klack, klick-di-klack. „Vergiss nicht, einen Brief zu schreiben.“ Klick-di-klack, vergiss nicht zu schreiben.
Als der Zug im Bahnhof von Shwsbri einfährt, vergessen sie mich gleich, und die ganze Schar drängt sich auf den Bahnsteig, die Taschen schwenken hin und her, die schwarz-gelben Mützen glänzen, trotz des Regens, und alle reden durcheinander. Auf dem Bahnsteig steht eine hässliche Frau, steif wie ein Schürhaken, unter einem Hut mit Federn; ihr Mund ist wie eine gerade Linie, und sie hält einen dünnen schwarzen Stock in der Hand. Als die Jungs sie beim Aussteigen erblicken, bleibt jeder einzelne von ihnen still stehen, rückt sich die Mütze gerade, zieht die Hose hoch, versucht, alles zugleich zurechtzuziehen.
„Also.“ Sie sieht alle an, als ob sie einen schlechten Geruch in die Nase bekommen hätte.
„Da fehlt doch noch einer!“
Dann sieht sie mich in der Tür stehen, mit der Mütze in der Hand und meiner Krawatte irgendwo um meinen Nacken.
„Aha.“ Ein kurzes Grinsen blitzt auf. „Da ist er ja. Sie sind Jones?“
„Ja, Mississ. Mein Name ist Joni Jones.“
„Aha! Gut, von nun an werden Sie Jones sein. Jones, J. In der Schule benutzen wir aber keine solchen Namen wie Johnnie, gell? Und nette, kleine Jungs sagen nicht „Mississ“, Jones. Mein Name ist Miss Danby. Nun, machen wir uns auf den Weg. Ich bin sicher, uns allen wird jetzt eine Tasse Tee gut tun.“
Und damit geht sie vorweg, den Bahnsteig hinunter, und ihr Stock geht auf und ab, und ihr Hintern wackelt von einer Seite zur anderen wie bei einer alten Ente. Und alle folgen ihr, leise wie Mäuse, und ich folge allen anderen wie der kleine Hund von Mrs. Jones von der Post.
An die beiden nächsten Tage kann ich mich – Gott sei Dank – kaum erinnern, nur an einige Augenblicke. Aber ich weiß genau, dass das Ganze viel schlimmer gewesen ist als alle meine Träume, die ich vorher darüber gehabt habe. Und das waren schon eine ganze Menge. Jeder hier in Prestfelde sah alt und erfahren aus und sprach fließend Englisch. Ich glaube nicht, dass die Lehrer jemals etwas von Wales gehört hatten, und der Kohl war zäh wie Leder und dunkelgrün wie Wasserkresse, und das Bett war hart, als ob man auf dem Boden schlafen würde, und der Direktor unterrichtete etwas namens Latein in einem Raum mit Stahlgittern an den Fenstern. Jeden Abend vor dem Zubettgehen ging ich aufs Klo und weinte leise, dann kehrte ich in die große, kalte Scheune zurück, wo alle so taten, als ob sie schliefen, aber eigentlich nur darauf warteten, mit dem Waliser ihren Spaß zu treiben.
Am Sonntag mussten wir uns im Latein-Raum versammeln, jeder mit einem Stück Papier und einem kleinen viereckigen Umschlag, und der Direktor sagte, dass wir einen Brief an zu Hause schreiben müssten, um zu sagen, dass es uns gut geht, dass wir gut angekommen sind und genug zu essen bekommen. Also nahm ich den nagelneuen Füllfederhalter und fing an, den Brief zu schreiben.

    „Liebe Mutter, lieber Vater!
    Ich hoffe, Sie sind OK wie ich. Ich bin gut angekommen. Das Essen ist ganz gut und die Schule ist ganz nett. Ich freue mich auf die Ferien. Grüßen Sie Spot von mir und den Felin-See,
    Liebe Grüße,
    Ihr Joni.“

(1) Die in der Jugendsprache der Schüler abgewandelten englischen Wörter bedeuten „phantastisch“, „Frühstück“, „Fußball“ und „Hausaufgaben“.