Der Drachenprinz

Der Drachenprinz

Florian Russi

Geschichten aus der Mitte Deutschlands, mit Zeichnungen von Dieter Stockmann, 2004, 222 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag

ISBN: 978-3-937601-08-3
Preis: 11,00 €

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Ins volle Leben greifen diese Geschichten.

Liebe und Hass, Freude und Leid, Solidarität und Hinterlist, Tugend und Skrupellosigkeit, Verrat, Rache, Mord, Gier, Mobbing, Impotenz… Kaum ein Thema wird ausgespart.

Warum verlässt Kaiser Rotbart nicht den Kyffhäuser, um Deutschland aus seiner Krise zu retten? Weshalb wartet ein heidnischer Germanenstamm sehnsüchtig auf den Mann, der ihm das Christentum bringen will? Wieso werden in Gräfenroda Zwerge hergestellt? Was geschah während der Wende – von 1945? Womit half Wotan nach der zweiten großen Wende den Arbeitslosen? Dieses Buch gibt unerwartete Antworten.

Die Erzählungen sind voller Fantasie und doch zielgerichtet, ohne Schnörkel. Einige sind romantisch und gefühlvoll, die meisten bösartig, grausam, scheinbar unmoralisch. Ethik heißt dann: Verhindere, dass man dir Unrecht tut.

Viele Dinge gibt es in der Mitte Deutschlands, die erklärt und gewürdigt werden müssen. Jeder Baum und Strauch, jeder Fels und Hügel, Flüsse und Teiche, Brücken und Hütten, Pflanzen und Steine, alle haben ihre eigene Geschichte. Wenn man sie reden lässt, hören sie nicht mehr auf zu erzählen. – Florian Russi hat zugehört.

Ein Lesevergnügen.

Leseprobe

Die Geschichte von Luise und Kunigunde


Vor langer Zeit lebte auf Gut Buschhof bei Freyburg an der Unstrut ein Winzer mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern. Der Winzer und seine Frau waren fleißig, ihr Wein weithin bekannt und begehrt. So lebte die Familie glücklich und im Wohlstand.
Die ältere der Töchter, getauft auf den Namen Luise, war blond, flink und gut gewachsen. Sie war kaum 13 Jahre alt, da begannen die ersten jungen Männer, ihr den Hof zu machen. Die Jüngere, mit Namen Kunigunde, war dunkelhaarig und zierlich, auch sie ein hübsches und fröhliches Mädchen. Die Eltern hatten allen Grund, stolz auf ihre Kinder zu sein.
Doch unerwartet starb die Mutter von Luise und Kunigunde Der Vater versank darauf in tiefe Depression, und die Töchter sorgten sich nun auch um sein Leben.
Eines Tages trat der Vater an die Ältere, heran und sagte: „Ich will mir keine neue Frau suchen. Du wirst jetzt an die Stelle deiner Mutter treten.“
Luise erschrak über solch ein Ansinnen. Sie wollte den geliebten Vater nicht verletzen, doch sie antwortete ihm: „Ich kann nicht deine Frau sein. Ich bin deine und meiner verstorbenen Mutter Tochter.“ Da wurde der Vater zornig, schlug sie und zwang sie mit Gewalt, wie eine Ehefrau mit ihm zusammenzuleben. So sehr Luise auch weinte und ihn anflehte, von ihr abzulassen, es nutzte nichts. Nur die Sorge um ihre jüngere Schwester hielt Luise davon ab, sich den eigenen Tod herbei zu wünschen.
Ein paar Jahre vergingen, da sagte der Vater zu Kunigunde: „Du bist inzwischen alt genug, um zu erkennen, dass ich deine Schwester zu meiner neuen Frau genommen habe. Ich will keinen Unterschied zwischen euch machen. Ab jetzt sollst auch du für mich Frau und Geliebte sein.“
Wieder half kein Jammern und Flehen. Der Vater vergriff sich an Kunigunde, brach ihren Willen und missbrauchte fortan auch sie.
Eines Tages sagte Luise zu Kunigunde: „Ich hab sehr wohl mitbekommen, dass unser Vater mit dir dasselbe tut, was er schon seit längerer Zeit mit mir macht. Es ist eine Sünde und ein Verbrechen, wir brauchen es uns nicht gefallen zu lassen.“
„Wir sind zu schwach, uns dagegen zu wehren“, erwiderte Kunigunde. "Niemand wird uns helfen.“
„Überlasse das mir“, gab Luise zur Antwort. Sie hatte nach langem Ringen den Entschluss gefasst, ihren Vater zu töten.
Eines Nachts, als er schlief, verließ sie das Bett und ging zum Herdfeuer. Am Abend hatte sie einen Schürhaken hineingelegt. Seine Spitze war inzwischen glühend heiß geworden. Geschützt durch einen nassen Lappen zog sie den Haken aus der Glut und schlich durch die Dunkelheit zum Zimmer, in dem der Vater schlief.
Plötzlich fühlte sie sich am Nachthemd zurückgehalten. Es war Kunigunde, die sie unter Tränen anflehte: „Nein, tu es nicht, es ist doch unser Vater.“
Luise riss sich von ihr los, doch Kunigunde warf sich ihr in den Weg und hielt sie zurück. Es kam zu einem Handgemenge, wobei Luise nicht verhindern konnte, dass die Spitze des glühenden Schürhakens der geliebten Schwester ins Gesicht stieß und unter Zischen eine schlimme Brandwunde verursachte.
Der Vater hatte tief geschlafen und vom nächtlichen Kampf seiner Töchter nichts mitbekommen. Als er am folgenden Morgen die Verletzungen im Gesicht Kunigundes sah, stieß er sie von sich und rief: „Pfui Teufel, was hast du für eine hässliche Wunde im Gesicht?“ – „Ich bin gestürzt und mit dem Gesicht gegen die offenstehende Ofentüre gefallen, als ich Holz nachlegen wollte“, log Kunigunde, während der Vater missmutig blickte und ihr wegen ihres „dämlichen“ Ungeschickes Prügel androhte.
So lebten sie weiter wie bisher, und der Vater ließ nicht zu, dass sich eine von ihnen für etwas anderes interessierte als für die Arbeit im Weinberg und die Erfüllung seiner Wünsche.
Doch als ein wilder und furchtbarer Krieg ausbrach und Soldaten und aufständische Horden durch das Land zogen, änderte sich auch das Leben auf Gut Buschhof. Eines Tages brachen vagabundierende Söldner das Tor zum Weingut auf, jagten den Vater in die Flucht, betranken sich am Wein, vergewaltigten die Töchter und vertrieben auch sie.
Nachdem der Krieg zu Ende gegangen war, kehrten die beiden Schwestern auf den Buschhof zurück. Zuvor hatten sie sich vergewissert, dass sich dort niemand anderes mehr aufhielt.
In mühevoller Arbeit bauten sie wieder auf, was die Horden zerstört hatten. Schon nach wenigen Jahren verkauften sie mit Gewinn ihren guten Wein an die Bürger der nahen Stadt und an die auf dem Gut einkehrenden Wanderer.
"Unser Vater ist sicher ums Leben gekommen“, sagten sie sich. „Falls er aber doch eines Tages wiederkehren sollte, wollen wir uns so verkleiden, dass er uns nicht erkennt.“ Deshalb färbten sie sich ihre Haare und schminkten sich so, dass sie hässlich aussahen wie alte Hexenweiber.
Unerwartet trat dann das Schreckliche ein, und der Vater stand vor ihnen, gesund und kräftig, wie sie ihn in Erinnerung hatten.
„Unser Vater ist im Krieg gefallen“, behauptete Luise, „und unsere Namen sind nicht Luise und Kunigunde, sondern Anna und Genoveva. Zieh weiter, Mann. Wir haben nichts mit dir zu tun.“
„Wieso hat deine Schwester eine so hässliche Brandwunde im Gesicht?“, fragte der Vater höhnisch. „Ich erkenne sie doch wieder, diese Narbe. Sie gehört niemand anderem als meiner Tochter Kunigunde.“ So sprach er, ließ sich auf einer Bank in der Küche nieder und verlangte nach Wein und gutem Essen. Luise und Kunigunde waren auf ein solch dreistes Verhalten nicht vorbereitet und ergaben sich erneut in ihr Schicksal.
Doch ehe ein Monat vergangen war, sagte Luise zu Kunigunde: „Was sollen wir uns in unserem Leben noch alles gefallen lassen? Versprich mir, dass du mich diesmal nicht wieder von meinen Plänen abhältst.“ Kunigunde versprach’s.
Wenig später lockten die Töchter ihren Vater unter einem Vorwand in einen Raum des Kellergewölbes, in dem die große Weinpresse zum Keltern der Reben stand. Kaum hatte er den Raum betreten, schlugen sie die Tür hinter ihm zu, versperrten sie und vermauerten sie mit vorbereiteten Ziegeln. In der Decke über der Kelter befand sich eine Öffnung, durch welche die Trauben in die Presse geschüttet werden konnten, doch die Decke war sehr hoch und für den Eingeschlossenen nicht erreichbar. Vom Fuß der Kelter lief eine schmale Rinne zum Nachbarraum, wo der gepresste Traubensaft aufgefangen und in vorbereitete Fässer gefüllt werden konnte. Die Öffnung war zu eng, als dass ein Mensch hätte hindurch schlüpfen können. Um ganz sicher zu gehen, schraubten die Schwestern über die Öffnung in der Decke noch ein schweres Eisengitter. Der Vater schimpfte, fluchte, flehte und stieß Verwünschungen aus. Ein Entkommen aus dem Verlies war nicht möglich.
„Was soll ich hier?“, jammerte er und blickte verzweifelt zum Loch in der Decke.
„Nichts Unrechtes mehr an uns tun“, antwortete Luise, und Kunigunde ergänzte: „Du wirst für uns arbeiten und dir dein täglich Brot verdienen.“ Sie füllten die Kelter mit frischen Reben und forderten den Vater auf, diese zu pressen, anderenfalls er nichts zu essen bekäme und elend verhungern müsse.
Als sein Hunger immer größer wurde, zeigte sich, dass die Überheblichkeit des Mannes sehr schnell in sich zerbrach. Widerspruchslos bediente er die Traubenpresse und befolgte alle Anweisungen seiner Töchter. Diese waren inzwischen so gefestigt in ihren Entschlüssen, dass keine von ihnen auch nur daran dachte, den Vater wieder zu befreien. So ging es viele Jahre.
Als sich Männer aus der Umgegend anboten, ihnen bei ihrer schweren Arbeit zu helfen, lehnten die beiden Schwestern dankend ab. Alle staunten nur über die Leistung und Kraft der beiden „Weiber“, deren Wein begehrt blieb und sie wohlhabend, zufrieden und von Tag zu Tag schöner machte.
Gegenüber Männern waren sie höflich, aber selbstbewusst und abweisend, wenn sie zudringlich werden wollten. Sicher haben die beiden schlimme Erfahrungen im Krieg gemacht, dachten diese; der Krieg hat so vieles geändert, und nicht zum Besten.