Alids Traum
Florian Russi
12 Einhorngeschichten, 2005, 92 Seiten
ISBN: 978-3-937601-22-9
Preis: 7,80 €
Mit diesen Geschichten entführt Florian Russi in die Welt der Einhörner und der Götter, Menschen und Tiere, denen sie begegnen. Von den Urriesen haben die edlen Sagentiere den Auftrag erhalten, Friedensliebe, Treue und Redlichkeit in die Welt zu bringen. Sie, von deren Herkunft, Erlebnissen und Abenteuern der Autor liebevoll und mitfühlend erzählt, träumen davon, ihre Mitgeschöpfe glücklich zu machen. Die aber sind oft eifersüchtig oder wollen nicht verstehen. Sie stellen ihnen nach und sind nicht am guten Charakter der Einhörner interessiert, sondern an ihrem Horn, das angeblich ungeahnte Kräfte verleiht. In diesem Widerstreit hat sich der Autor eindeutig auf die Seite der Einhörner geschlagen.
Der Leser wird an diesen Geschichten viel Freude haben. Sie sind anschaulich, voller Einfälle und überraschender Wendungen und ein Grund, Einhornliebhaber zu werden.
Die Erzählungen:
- Einhorn-Saga
Vom Ursprung der Einhörner - Pegasos
Das geflügelte Einhorn und die schöne Prinzessin - U lame nu
Eine Einhornliebe - Enion, das Einhorn
Ein Pony, das die Welt nicht versteht - Die Einhornschule
Ein Einhornmädchen versucht, von den Menschen zu lernen - Sina und der Jäger
Von menschlichem Klein- und tierischem Großmut - Hornräuber
Von denen, die Opfer ihres Aberglaubens wurden - Die bösen Malos
Die Stärke der Schwachen - König Kujo
Herrscher wider Willen - Das Grab an der Wegkreuzung
Wenn die Natur sich wehren muss - Die Einhornfrage
Die Wissenschaft greift nach den Einhörnern - Alids Traum
„Ich hatte einen Traum…“
Leseprobe
Pegasos
Der Gott, den die alten Griechen am meisten liebten, hieß Apoll. Er war der Sohn des Zeus und der Leto. Schönheit und edle Gestalt zeichneten ihn aus. Im Götterhimmel war er zuständig für Weisheit und Kunst.
Voller Schwächen waren die antiken Götter. Darin unterschieden sie sich nicht von den Menschen. So blieb nicht aus, dass sie gelegentlich unter ihren eigenen Fehlern zu leiden hatten und unzufrieden waren mit sich und dem Lauf der Welt.
Da sagte Gottvater Zeus eines Tages zu Apoll: „Du bist der Edelste unter uns. Mach dir Gedanken darüber, wie wir ein wenig mehr Tugendhaftigkeit auf die Erde bringen können. Göttern wie Menschen fehlt’s daran. Wenn aber alle böse und durchtrieben sind, wird am Ende der schlimmste Gauner als Sieger allein übrig bleiben.“
An einem schönen Frühlingstag wanderte Apoll durch Arkadien. Als er zur Helatonquelle gelangte, ließ er sich in der Nähe nieder, lehnte sich mit dem Rücken an einen tausend Jahre alten Olivenbaum und fiel in Schlaf.
Im Traum sah er, wie eine Nymphe der Quelle entstieg. Menschen kamen, bildeten einen Kreis um sie, fassten sich an den Händen, sangen, tanzten und waren guter Dinge. Ein Knabe in weißem Gewand trat hinzu und spielte auf einer Panflöte. Doch plötzlich brach ein Unwetter über sie herein. Poseidon, der Gott des Meeres, sandte Blitze auf die Feiernden herab und ließ es regnen.
„Lass das, du Eifersüchtiger“, schrie Apoll empört. Er wollte eingreifen, doch im selben Augenblick erwachte er. Vor sich sah er keine Nymphe, aber Kiomene, die bildschöne Tochter des Königs Alamos von Arkadien. Sie kniete an der Quelle, hatte einen Krug mit Wasser gefüllt und wusch nun ihr blaues Stirnband in dem sprudelnden Wasser. Apoll war sofort gefangen von ihrer Schönheit und dachte: wer so aussieht, muss auch einen edlen Charakter haben.
„Ich bin der Gott Apoll“, stellte er sich vor. Weder erschrak noch wunderte sich die junge Frau darüber. Die Menschen der Antike waren daran gewöhnt, dass sich die Götter unter ihnen bewegten.
„Lass uns etwas schaffen, was vollkommen ist: schön, rein, gewandt, geschwind und tugendhaft“, fuhr Apoll fort.
„Wie sollte so ein Wesen aussehen?“, fragte Kiomene unbefangen und neugierig.
„Wenn du die Liebe, die in mir brennt, erwidern würdest, könnten wir ein Kind bekommen, so schön wie du und mit meinen göttlichen Eigenschaften“, erklärte Apoll voller Erwartung.
„Dein Vater Zeus hat sich mit vielen Menschenfrauen eingelassen. Es ist mir nicht bekannt, dass dabei etwas Gescheites herausgekommen wäre. Wenn nicht einmal ihr Götter vollkommen seid, wie sollen Halbgötter es sein können? Du musst ein völlig neues Wesen schaffen, göttergleich, aber auch mitfühlend, wie edle Menschen es sind.“
„Was immer du dir vorstellst, ich werde es möglich machen.“
„Am liebsten wäre mir ein Pferd.“
„Es wird heißen: Es ist ein Tier wie jedes andere.“
„Dann lass ihm ein edles Horn wachsen.“
„Die Menschen werden es einfangen und für den Kampf ausbilden.“
„Statte es mit Flügeln aus. Es soll sich durch die Luft bewegen können wie ein Vogel.“
„Man wird mit Pfeilen nach ihm schießen.“
„Es soll göttlich sein und unsterblich.“
„Eifersüchtige Götter werden ihm auflauern.“
„Gestalte es so, dass es sich unsichtbar machen kann.“
Kiomene sah Apoll erwartungsvoll an. Der verliebte Gott gab sich geschlagen.
Plötzlich hörten sie ein gewaltiges Rauschen, und aus der Quelle sprang ein Pferd hervor, schöner als beide sich je eines hätten vorstellen können. Es hatte Flügel, ein Horn und eine goldene Mähne. „Pegasos“, rief Apoll verblüfft, was so viel wie „Geschöpf aus der Quelle“ bedeutete.
Selbst der verwöhnte Gott war gefangen von der strahlenden Erscheinung des geflügelten Pferdes. Als er sah, wie verzückt Kiomene die rassige Eleganz des Tieres bestaunte, wurde er jedoch neidisch und eifersüchtig. Schon bereute er, es geschaffen zu haben.
Pegasos wollte die Missgunst des Gottes nicht weiter anstacheln und machte sich unsichtbar. Apoll aber sagte zu Kiomene: „Ich habe deine Wünsche erfüllt. Nun will ich dich zum Lohn.“
Er wollte die Prinzessin festhalten, doch sie entwand sich ihm, tastete nach dem Einhorn und schwang sich auf dessen Rücken. Im selben Moment war auch sie nicht mehr zu sehen.
Apoll fluchte und drohte: „Ich werde euch verfolgen, wohin immer ihr auch entfliehen solltet. Dann werde ich Pegasos an einen Felsen ketten und ihn der sengenden Sonne aussetzen. Dort wird er verdorren und verbrennen. Kein Tod kann ihn dabei erlösen. Als göttergleiches Wesen wird ihm seine Unsterblichkeit zur Qual werden.“
Doch Pegasos flog mit Kiomene davon und umkreiste die Erde. Wann immer sie sich irgendwo zeigten, wurden sie bestaunt und mit Fragen bedrängt. Bei Menschen und Göttern warben sie um Vertrauen und Solidarität. Aus Angst vor den Nachstellungen Apolls wagten sie es jedoch nicht, lange sichtbar zu bleiben.
Noch heute kann man ihnen unerwartet an Quellen, in Waldlichtungen, an einsamen Meeresbuchten und auf Bergeshöhen begegnen. Dann scherzen sie freundlich und Pegasos lässt sich auch gerne streicheln oder ins Gespräch verwickeln.
Wenn irgendwo Menschen in guter Absicht zusammentreffen, gesellen die beiden sich hinzu. Sie sind dann ganz leise und freuen sich, wenn die Beteiligten sich friedlich beraten, verständigen oder aussöhnen.
Immer muss Pegasos befürchten, von bösen Menschen erkannt und verraten zu werden. Mehr noch als die Furcht vor dem Zorn des Gottes bewegt ihn aber die Sorge, dass seine schöne Prinzessin, da sie nur ein Mensch ist, eines Tages sterben könnte.