Der Bronstein-Defekt
Christoph Werner
und andere Geschichten 2001 erschienen im Cambria Verlag (Hildesheim) seit 2005 im Sortiment des Bertuch-Verlags 132 Seiten
ISBN: 978-3-937601-18-2
Preis: 10,80 €
"Ich stellte bald an mir selbst die Verführung durch Zählen und Auswerten fest und empfand die Wonne, Gesetzmäßigkeiten bei gewissen Massenerscheinungen festzustellen. Nichts war vor mir sicher. Als erstes machte ich mich über die Friedhöfe her..."
Bronstein weiß in diesem Moment noch nicht, in welche Gefahr er durch seine Sucht nach Statistik und die Entdeckung des Bronstein-Defektes geraten wird. Ein Geheimdienst beginnt sich für ihn zu interessieren.
Die Angst des kleinen Jungen auf dem Kirchturm, die Last auf den Schultern des Jüngers vor 2000 Jahren, die irrwitzige Normalität eines Arbeitstages an der Universität, der einsame Aufstand des Schülers gegen die Trägheit des Herzens, das respektlose Leben der walisischen Fürstin - davon und von anderem erzählen die Geschichten im Buch.
Leseprobe
Auf dem Kirchturm
Bloß langsam. Bloß keinen Schritt zu schnell gehen. Auf keinen Fall rennen, so sehr es ihn drängt. Sie nur nicht zu schnellerer Verfolgung reizen.
Sie lauern zwischen den Bänken, hinter dem Altar, hinter der halb geöffneten Sakristeitür. Er wirft hastige, angstvolle Blicke in die halbdunklen Bankreihen. Niemand da. Doch jetzt, als er schaut, jedes Mal wenn er schaut, scheint etwas zu verschwinden. Immer schnell genug, dass er es nicht genau sehen kann. Er schaut absichtlich nicht zu genau hin. Er will sie nicht sehen müssen, muss sie aber doch gleichzeitig mit den Blicken verscheuchen. Kein Gedanke, dass Jesus, der über dem Altar am Kreuz hängt, ihm helfen kann.
Mit gewaltsam gebremsten Schritten erreicht er den hinteren Teil des Kirchenschiffes und die mit bunten Glasfenstern versehene Tür zum Erdgeschoss des Turmes.
Hätte er doch gestern beim Abschließen nicht so frohlockt, mit dem Herumdrehen des großen Schlüssels so schadenfroh und triumphierend festgestellt, dass sie ihn diesmal nicht gekriegt hatten. Laut gerufen hatte er auf dem Weg durch den Kirchhof; aus der angstvollen Lust, entkommen zu sein, Schimpfworte gegen sie gebraucht und sie trotz seiner Angst vor morgen verlacht, weil sie ihn nicht bekommen hatten. Wäre er doch gestern nur still gewesen. Nun bittet er sie insgeheim um Verzeihung.
Aber sie müssen doch jetzt Rache nehmen und ihm zeigen, dass sie ihn sehr wohl kriegen können. Er schlüpft schnell durch die Tür und zieht sie zu. Hier fühlt er sich erst einmal sicher. Der Vorraum ist hell erleuchtet, und links und rechts sind Verschläge, wo die Kohlen lagern. Von dort droht keine Gefahr.
Der Aufstieg zum Glockenstuhl steht ihm bevor.
Nun tanzten wohl bei Mondenglanz,
Rundum herum im Kreise,
Die Geister einen Kettentanz,
Und heulten diese Weise:
»Geduld! Geduld! Wenn's Herz auch bricht!
Mit Gott im Himmel hadre nicht!
Des Leibes bist du ledig;
Gott sei der Seele gnädig!«
Warum hat ihm sein Vater das Buch mit den deutschen Balladen gegeben, als er ihn nach etwas zum Lesen aus seinem großen Bücherschrank fragte? Es ist jetzt kein Mondenschein, und den Kirchhof mit seinen alten Gräbern hat er hinter sich – aber den Rückweg, wenn es sehr dämmrig sein würde, vor sich.
Er darf nach dem Läuten nicht wieder aus dem Schallloch nach unten auf die Gräber sehen und muss versuchen, noch vor dem Rückweg zu vergessen, was er zu Hause, in der warmen Küche, mit wohligem Grausen las. Weit entfernt war da der Kirchturm, im Dunkeln draußen undeutlich gegen den helleren Nachthimmel aufragend.
Der Türmer erbleichet, der Türmer erbebt,
Gern gäb' er ihn wieder, den Laken.
Da häkelt – jetzt hat er am längsten gelebt –
Den Zipfel ein eiserner Zacken.
Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins,
Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins,
Und unten zerschellt das Gerippe.
Vor zwei Wochen war es leichter. Er hatte ein Huhn, ein weißes Leghorn, mitgenommen. Auf dem Weg durch das Kirchenschiff guckte es furchtlos und munter um sich, sie trauten sich nicht heraus. In ängstlicher Erwartung war er nach oben gestiegen, auch hier kein schnelles Weghuschen hinter der Orgel, zwischen den Bänken auf der Empore. Sein Huhn und er waren frohgemut bis zur Glocke gelangt, und vor dem Abstieg hatte er nun auch keine Angst. Übermut packte ihn, und er stellte nach dem Läuten einen Flugversuch mit dem Huhn an. Es war ihm nicht wohl dabei zumute, als er das Huhn aus dem Schalloch warf.
Und natürlich, es flog nicht richtig, sondern flatterte nur gackernd und schlug schwer auf den Boden auf. Nun hatte er solche Angst, dass dem Huhn durch seine Schuld etwas zugestoßen war, dass er in Windeseile, fast ohne sich um sie zu kümmern, die Treppen hinunter und durch das Kirchenschiff und durch den Kirchhof zu dem Huhn rannte. Da hockte es dicht an der Turmwand und schaute ihn vorwurfsvoll an. Er nahm es unter den Arm und rannte von außen um den Garten. An der niedrigen Mauer in der entferntesten Ecke blieb er stehen, hob das Huhn auf die Mauer und gab ihm einen kleinen Stoß. Es flatterte in den Garten. Seitdem legt es zur Verwunderung seiner Stiefmutter keine Eier mehr. Noch mehr Angst hatte er um Peter, den Kater, ausgestanden. Das geschah, nachdem sein Vater am Abend zuvor im Dämmerlicht seines Amtszimmers den Bericht von Blumhardt über die Krankheits- und Heilungsgeschichte der Gottliebin Dittus in Möttlingen vorgelesen hatte. Der Gottliebin hatte Blumhardt Dämonen, auch Klopfgeister, ausgetrieben, und sie schrie schrecklich dabei, oder die Dämonen schrieen aus ihr.
Am nächsten Abend hatte er aus Angst den Kater mit zum Glockenläuten genommen, und sie hatten sich im Kirchenschiff und auf der Treppe im Turm und hinter der Orgel und zwischen den Bankreihen auf der Empore nicht hervorgewagt. Im Halbdunkel der Kirche glühten Peters Augen und der Kater versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien. Doch er hielt ihn fest und lief die Turmtreppe hinauf und schlug die letzte Falltür hinter sich zu. Er ließ den Kater los und öffnete die nach allen vier Himmelsrichtungen gehenden Luken. Es war ganz hell, die Falltür in die Tiefe war zu und die Angst weg.
Er sah auf die Rathausuhr, und als es fünf Uhr war, begann er zu läuten. Im Krieg hatte man der Kirche nur die kleinste Glocke gelassen, die sich leicht läuten ließ. Er spielte am Anfang mit ihr, zog mit der linken Hand den Strick und hielt mit der rechten den Klöppel auf, wenn er anschlagen wollte. Wenn sie dann richtig in Schwung war, so, dass das dicke Holz, an dem der Strick befestigt war, fast oben gegen den Balken schlug, ließ er den Klöppel anschlagen, und das Läuten begann. Er beobachtete die Rathausuhr durch das nördliche Schalloch, und als sie fünf Uhr fünf anzeigte, hielt er den Klöppel mit der Hand auf und verzögerte mit dem Strick das Hin- und Herschwingen der Glocke. Er war stolz auf dieses plötzliche Aufhören. Bei anderen tröpfelte das Läuten langsam aus, bei ihm nicht. Mitten aus dem vollen Getön Stille. Nur das Ächzen der Balken hielt an, bis die Glocke stillstand.
Er sah sich um. Wo war der Kater? Er blickte nach oben in das Gebälk über der Glocke. Nichts zu sehen. Er kletterte in das Gebälk hinein soweit er konnte. Er rief und schnalzte, doch Peter zeigte sich nicht. Die Angst vor seinem Vater, die nie ganz verging, wuchs. Er würde ihn anschreien, und er würde weinen müssen. Darauf würde er ihn anfahren, heule nicht, worauf er doch nur noch stärker weinen müsste. Wenn das beim Abendessen geschah, stopfte er sich manchmal den Mund voll Brot. Das half zuweilen. Mit vollem Mund, mit dicken Backen, konnte man nicht richtig weinen.
Er schloss die Luken vor den Schalllöchern und machte sich an den Abstieg. Es hatte doch keiner gesehen, dass er Peter mitgenommen hatte. Trotzdem, sein Vater würde ihm ansehen, dass etwas nicht in Ordnung war. Er ließ die erste Falltür über seinem Kopf herab und stieg ein paar Stufen abwärts. Da, an der Decke, auf einem Balken, saß Peter verängstigt und blickte auf ihn herab. Er musste sich, von dem ungeheuren und ungewohnten Lärm der Glocke zu Tode erschreckt, durch den winzigen Spalt zwischen Mauer und Holzdecke gezwängt haben. Er langte zwischen zwei Treppenstufen hindurch und pflückte den Kater vom Balken. Er war so erleichtert, dass sich der Rückweg durch die Kirche wie von selbst ging.
Aber nun muss er weiter, um pünktlich oben zu sein. Hinter der Orgel ist die Gefahr am größten. Hier können sie von drei Seiten, links und rechts der Orgel und aus den Bänken der Empore kommen. Und so schnell kann er den Kopf nicht wenden, als dass sie nicht von einer durch schnelles Blicken nicht geschützten Seite an ihn heranhuschen könnten. Und zu allem muss er heute Abend fürchten, bestraft zu werden. In der Morgenandacht heute früh hatte er, um nicht zu spät zur Schule zu kommen, den Blasebalg ganz hoch getreten und war dann, noch vor Beendigung des Orgelspiels, das das Hinausgehen der Andachtsbesucher begleitet, losgerannt. Manchmal reichte die Luft aus. Heute früh aber, als er bereits den Kirchhof durchquert und die Straße erreicht hatte, hörte er die Orgel schaurig absacken und ersticken. Sein Vater würde ihm, wie er es nannte, ein paar hinter die Ohren geben, nicht ohne ihn vorher die Brille abnehmen zu lassen. Und sie würden ihn auch bestrafen wollen.
Er erreicht die erste Falltür, die zum Stock mit dem Uhrwerk führt. Gegenüber der Falltür öffnet sich der Durchgang zum Dachboden über der Kirche, gähnendes, staubiges, unheimliches Dunkel. Den Blick fest auf den Durchgang in das Dunkel gerichtet, um sie nicht herauszulassen, steigt er die letzte Treppe zum Glockenstuhl hinauf. Es kommt der Moment, wo er nach oben blicken muss, um den Türriegel zu finden und den schützenden Blick also wegwendet. Jetzt hilft nur Schnelligkeit. Er stößt die Tür auf, eilt die letzten Stufen hinauf und wirft die Tür hinter sich zu. Helligkeit hier oben, kein Ort für sie.
Doch ganz verlässt ihn die Angst nicht. Hatte er doch neulich, als er die Turmuhr aufziehen und sie nach der Rathausuhr stellen musste, übermütig das Stellrad gedreht und die Zeiger wie wild über die großen, weißen Zifferblätter kreisen lassen. Die Schwungmasse der acht Zeiger der vier Zifferblätter ließ die Zeiger immer noch weiter kreisen, als er schon aufgehört hatte zu drehen. Ein Mitglied der Gemeinde hatte das beobachtet und ihm gedroht, seinem Vater davon zu erzählen. Das stand noch bevor.
Er öffnet die Luken und schaut auf die Rathausuhr. Fünf Minuten vor fünf. Er blickt aus dem südlichen Schallloch in den Vorgarten des Pfarrhauses. Er sieht das halb in die Erde eingegrabene Regenwasserfass, in dem neulich sein Halbbruder fast ertrunken wäre. Er hatte auf der Leiter am Haus gestanden und Weintrauben gepflückt, als er aus der Richtung des Wasserfasses Plätschern und dumpfes Klopfen hörte. Er wandte den Kopf und sah die festen, dicken Beinchen in den hellen Kinderschuhen über dem Wasser gegen die nassen Wände des Fasses schlagen. Er stieg schnell von der Leiter herunter und ging – ja ging, lief nicht – zum Fass. Er zog seinen Bruder heraus und stellte ihn auf die Füße. Der Kleine fing sofort an zu brüllen, während ihm schlammiges Wasser aus den Nasenlöchern rann. Er trug ihn schnell zu seiner Stiefmutter und erklärte seine Rettungstat. Aber nicht, dass er zum Fass gegangen und nicht gerannt war.
Um fünf. Er beginnt wie jeden Tag zu läuten. Bald wird es Winter, und die Dunkelheit kommt früher.